von den Aufgaben des Journalisten
von Henri Nannen
Der Journalist - seine Berufsbezeichnung sagt es - muß zu jeder Zeit à jour sein. Aber nicht, daß er selber stets auf dem laufenden ist, macht den Beruf des Journalisten aus, sondern daß er seine Wahrnehmungen und Erkundungen, seine Erfahrung und seine Meinung den Lesern oder Hörern seines Mediums mitteilt.
So objektiv wie möglich, so aktuell wie möglich und so anschaulich wie möglich. Das erst gibt der Neugier des Journalisten ihren professionellen Sinn.
Ohne die Neugier freilich, ohne das Bedürfnis, stets den neuesten Stand der Entwicklung zu kennen und ohne das Bemühen, Anfang und Ende einer jeden Entwicklung zu ergründen, ohne dieses Erkenntnisstreben hätte der Journalist seinen Beruf verfehlt:
Journalismus bedeutet Information über das Bestehende, über sein Zustandekommen und die in ihm beschlossenen Möglichkeiten.
Wer sich mit dem Zustand allein begnügt und ihn nur abschildert, ist bestenfalls ein Berichterstatter.
Wer nur kritisch und ideologisch postuliert, ist eher ein Propagandist und Pamphletist. Merker oder Täter, das sind nicht die Alternativen des Journalisten. Sein Beruf ist immer ein Stück Aufklärung.
Übrigens: wenn hier ein wenig gewohnheitsmäßig und gedankenlos von »dem Journalisten« die Rede ist, so schließt das die Journalistin nicht aus. ( ... )
Journalismus ist ein Stück Aufklärung, sagten wir. Ich bin überzeugt, daß den wirklichen Journalisten der Wille treibt, seinem Leser die Welt begreifbarer, die Verhältnisse transparenter und damit das Leben bewußter zu machen.
Auf'klären heißt für ihn, hinter die Kulissen des Zeittheaters blicken, ideologischen Qualm und parteipolitischen Nebel vertreiben, Illusionen und Aberglauben bekämpfen, die Dinge beim Namen nennen und, mit einem neumodischen Slogan formuliert: zu sagen, was Sache ist
Deshalb haben wir die Forderung nach Objektivität an den Anfang gestellt. Wohl wissend, dass es Objektivität im reinen Sinne nicht gibt. Die Augen, mit denen der Journalist sieht, die Sinne, mit denen er wahrnimmt, sind die Antennen eines Subjekts. Die Wirklichkeit, wie sie sich ihm darstellt, ist bereits die Wirklichkeit, gesehen durch ein Temperament.
Nicht von ungefähr lesen wir selbst im Nachrichtenteil der Tageszeitungen manchmal abweichende Darstellungen des gleichen Sachverhalts. Da muß durchaus keine Manipulation der Wahrheit im Spiel sein, nur: die »Wahrheit« des Journalisten A ist nicht die des Journalisten B, und das gilt vor allem bei Vorgängen, die sich nicht in Orts- und Zeitangaben erschöpfen, sondern bei denen Sinn und Zusammenhänge Raum für subjektive Deutung zulassen. Hört der Journalist A in der Rede des Politikers nur die resignativen Töne, so kommt dem Journalisten B, der den selben Politiker noch niedergeschlagener erlebte, die gleiche Rede eher kämpferisch und entschlossen vor. Entsprechend ist die Auswahl der Zitate, entsprechend die Schilderung der Reaktion der Zuhörer.
Auch der Stellenwert, den der schreibende Journalist oder der amtierende Chefredakteur als »Blattmacher« einer Nachricht geben, beeinflußt ihre Wirkung. Was dem einen Journalisten nur einer kurzen Notiz auf Seite 7 wert erscheint, das meldet der andere als Dreispalter auf der Titelseite seiner Zeitung.
Solange die Presse frei ist und es in einem Lande eine genügende Anzahl von unabhängigen Blättern gibt, ist eine politische oder ideologische »Gleichschaltung« nicht zu befürchten. Deshalb ist die Erhaltung der Pressevielfalt für die demokratische Meinungs- und Willensbildung von großer Bedeutung.
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Henri Nannen, Chefredakteur des Magazins »Stern«
aus Meyers Neues Lexikon in 8 Bänden, Band 4, 1979