Der unerträgliche Standpunkt

Heinz Kobald

  
 
Startseite / EUROPA
EUROPA - seine Mitglieder - seine Verfassung
Der Zaun zwischen Europa und Afrika

Sharon wird bei seinem Blick nach Marokko Genugtuung empfinden.



»... auf die afrikanischen Flüchtlinge, die mit aller Macht über jeden Schutzwall hinweg in dieses gelobte Europa gelangen wollen. Wer wissen will, wie viel dieses überbürokratisierte, apathische, satte, entscheidungsschwache Gebilde namens Europäische Union wert ist, muss dorthin fahren, wo es aufhört.
Ich bin zu denen gegangen, die alles aufgeben haben, nur um nach Europa zu gelangen: zu den Flüchtlingen an den Toren der Europäischen Union.«

Sagte der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani zum Thema Europa in seiner Festrede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung ( 14. Oktober 1955 ) des Burgtheaters.

In Tanger, 30 Kilometer südlich von Tarifa, sprach er mit den Gästen aus der “Pension de la Paix“, Pension Andalus, Pension Fuentes, Pension Hoffnung, vor dem Hotel Sevilla, kaum 20 Jahre alt der Jüngste, vielleicht 40 der älteste.

»Was sie in Europa wollen, fragte ich in die Runde.«
»Arbeit, natürlich, ein normales Leben, mehr nicht. Dass man ein bisschen Sicherheit hat, nicht jeden Tag von neuem kämpfen muss ums Überleben, eine Chance bekommt, eine Familie zu gründen oder die Freundin wenigstens mal ausführen könne. Auto und Urlaub gehören nicht zu dem Leben, von dem sie träumen; wichtiger ist ihnen, dass das Geld reichen wird, um der Familie von Zeit zu Zeit etwas überweisen zu können.«

Die Grenzanlagen um Ceuta erinnern jetzt schon an die frühere innerdeutsche Grenze:
Zwei Stacheldrahtzäune, drei und sechs Meter hoch, dazwischen eine Straße, auf der die Jeeps der Guardia Civil patrouillieren, Wachtürme natürlich, Videokameras, Nachtsichtgeräte.
Die Schwarzen wissen, dass sie nicht unbemerkt über die Grenzen kommen.
Sie versuchen, die Grenzzäune mit so viel Menschen gleichzeitig zu stürmen, dass sie jede Grenzpolizei überfordern. Wenn 500 Leute mit selbstgebauten Leitern auf den Grenzzaun losstürmen, kommen 50 durch - das ist das Kalkül.
Die Schwarzen werden für ein paar Tage interniert und dann an der Grenze zu Algerien ausgesetzt, mitten in der Wüste.
Sie werden wiederkommen. Die Schwarzen wissen es, die Soldaten wissen es, sogar der Taxifahrer, mit dem ich auf der Weiterfahrt über die “armen Hunde" spreche, weiß es.
Selbst wenn Europa auf sie schießt: Sie werden wiederkommen.

»Ob einer von ihnen bereits versucht habe, mit dem Boot nach Europa zu kommen, fragte er.
»Zweimal war ich schon drüben, sagt der erste und schaut in die Runde. Dreimal, sagt der nächste, einmal, viermal, und so weiter. Irgendwo setzen sie nachts über, werden von der spanischen Polizei auf hoher See oder am Strand geschnappt und nach Marokko zurückgebracht.«

In der Erinnerung erscheinen sie wieder, die Bilder des maroden Flüchtlingsfrachters, die 911 Passagiere, die am 17. Februar 200«1 am südfranzösischen Strand Boulouris gelandet sind; des Totenschiffes, das im Oktober 2003 von den italienischen Behörden an die Küste Lampedusas gezogen wurde: Alle Passagiere waren verdurstet.
Inzwischen treiben über 80 Prozent der Flüchtlinge in kleinen Schlauchbooten an die Küsten von Europa.
Wenn ihre Leichen an die europäischen Küsten gespült werden, ist das höchstens eine Meldung für die Lokalpresse des Küstenorts.
Wird angenommen, dass nur jede dritte Leiche gefunden und registriert wird, sind allein im Umkreis der Meerenge von Gibraltar in den letzten 15 Jahren zwischen 13.000 bis 15.000 Flüchtlinge gestorben.
Die Meerenge ist damit das größte Massengrab Europas.


»Noch 1932 schrieb Zweig, dass Europa “endlich wieder einen der Höhepunkte europäischer Humanität" erreicht habe. Zweig übersah die Stärke der nationalistischen Gegenkräfte keineswegs.
Niemals sei “die Absonderung von Staat zu Staat in Europa größer, vehementer, bewusster, organisierter als heute." Und dennoch spürte Zweig, dass Europa nach einer langen Epoche der Brutalität und Entfremdung zum ersten Mal wieder fühle, “an einem Gemeinsamen" zu arbeiten.«

»Zweig machte sich keine Illusionen, wie es 1932 um das Kräfteverhältnis zwischen den nationalen Partikularinteressen und der übernationalen europäischen Idee stand, zwischen dem Ressentiment und der Vision einer sprachlichen und kulturellen Vielfalt innerhalb eines gemeinsamen politischen Gebildes.
Zweigs Glaube an Europa erwuchs nicht aus der Analyse der politischen Gegenwart, sondern aus der Verzweiflung über sie.«
Sein Plädoyer für Europa war 1932 nicht realistisch, sondern messianisch.
Zweig glaubte, wie er selbst schrieb, “an Europa wie an ein Evangelium".
Eine wahrhafte Überzeugung bedürfe nicht der Bestätigung durch die Wirklichkeit, um sich richtig und wahr zu wissen.


Seit die Europäische Union die Zusammenarbeit mit Marokko intensiviert hat, geht die marokkanische Polizei gegen die illegalen Einwanderer vor. Wer ohne Papiere aufgegriffen wird, wird in die Wüste deportiert.
Europa konnte durchsetzen, dass die Pensionen in Tanger so gut wie keine Schwarzafrikaner mehr aufnehmen.
Sie leben jetzt vor allem in Lagern außerhalb der Stadt und vor den spanischen Enklaven, im Wald, ohne jede Versorgung, ohne sanitäre Einrichtungen, unter Zelten aus Plastikfolie oder unter freiem Himmel. Viele andere Schwarze sind in den Vorstädten von Tanger oder in Privathäusern der Altstadt untergetaucht, in Zimmern, in denen sie zu viert, zu acht, zu zwanzig hocken, ohne Strom und mit Löchern statt Toiletten.

»Die Freiheit und Freizügigkeit, an der wir heute teilhaben, ist nicht selbstverständlich, weder mit Blick auf die europäische Geschichte noch mit Blick auf unsere gegenwärtige Welt.«
Quelle: Zitate aus der Rede von Navid Kermani


Der Reichtum der Kolonien

In einer Sendung im Fernsehen hörte ich erstaunt eine Antwort auf die Frage, was sie in Europa finden wollen.
Die Worte sprachen die großen Lippen im glänzenden Gesicht eines jungen Afrikaners, der da in Kleidern vor dem Mikrofon stand, in denen kein Obdachloser in einer europäischen Stadt herum läuft.
“Europa ist durch seine Kolonien in Afrika reich geworden. Jetzt ist es an der Zeit, daß es unseren Teil an diesem Reichtum zurück gibt.“
Plötzlich stand diese erschütternde Wahrheit vor mir, an die ich selbst zuvor nicht gedacht hatte.


Die selbst verdiente Entwicklungs-Hilfe

»Wir müssen begreifen, daß die Immigranten keine Last sind, sondern eine Chance. Sagt José Palazón. Palazón, 40, ist Chef von Prodein, einer Hilfsorganisation aus Melilla.
Die Ankommenden sind Elektriker, Handwerker und Söhne von Ladenbesitzern. Familien, die das Geld zusammen kratzen müssen, schicken vor allen diejenigen auf die ungewisse Reise, denen sie zutrauen, sich später auch in Europa durchzusetzen. Was oft gelingt.
Im vergangenen Jahr 2004 haben Migranten 150 Milliarden $ in die Heimat überwiesen.
Diese Summe ist das Dreifache der weltweiten Entwicklungshilfe.
«
In Afrika sollen 18 Millionen zu ihrem Weg nach Europa aufgebrochen sein.
Quelle: Stern, 42/2005, Seite 68



17 Tishrei 5677 * 20. Oktober 2005 - zusammengestellt von Heinz Kobald