Der unerträgliche Standpunkt

Heinz Kobald

  
 
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Der Name meines Bruders
Tamaras GebetTAMARAS GEBET

Unter dem sternenbedeckten Himmel hatte Tamara keine Scheu, sich an Gott zu wenden. Sie glaubte, Ihn besser zu kennen als ihren Mann. Ihre geflüsterten Worte verloren sich im Rauschen des Baches. Dennoch hoffte sie, dass sie bis zu Ihm aufsteigen würden.

Als die Männer, die mit dem Jeep gekommen waren, ihr Haus verließen, bestand Zahed darauf, ihnen Orangen anzubieten, und bat seine Frau, ihm zu helfen, zwei große Körbe zu füllen. Sie weigerte sich.

An diesem Abend blieb Tamara länger als sonst auf der Bank sitzen. Sie wagte nicht, die Worte auszusprechen, die ihr auf der Zunge brannten. Und so blieb ihr Gebet auch dieses Mal stumm:
"Dein Name ist groß, und mein Herz ist zu klein, um ihn ganz zu umfassen. Was sollst Du mit dem Gebet einer Frau wie mir anfangen? Meine Lippen berühren kaum den Schatten Deiner ersten Silbe. Aber, so heißt es, Dein Herz ist größer als Dein Name. Wie groß Dein Herz auch sein mag, eine Frau wie ich kann es in ihrem eigenen schlagen hören. So heißt es, wenn sie von Dir sprechen, und sie sagen nichts als die Wahrheit.
Aber warum muss ich in einem Land leben, in dem die Zeit ihre Arbeit nicht verrichten kann? Die Farbe hat keine Zeit, abzublättern, die Vorhänge haben keine Zeit, zu vergilben, die Teller haben keine Zeit, zu zerspringen. Die Dinge sterben vorzeitig, die Lebenden sind immer langsamer als die Toten. Die Männer in unserem Land altern schneller als ihre Frauen. Sie vertrocknen wie Tabakblätter.

Der Hass ist es, der ihre Knochen beieinander hält. Ohne Hass würden sie im Staub in sich zusammenfallen, um nie wieder aufzustehen. Eine Windböe könnte sie forttragen. Nur die nächtlichen Klagen ihrer Frauen blieben zurück. Hör mir zu, ich habe zwei Söhne. Der eine ist die Hand, der andere die Faust. Der eine nimmt, der andere gibt. An einem Tag der eine, am nächsten Tag der andere. Ich flehe Dich an, nimm mir nicht beide."

So betete Tamara an dem Abend, an dem sie sich geweigert hatte, die zwei Orangenkörbe zu füllen, die ihr Mann den Männern mit dem Jeep geschenkt hatte.

CH Beck Verlag:

Dies ist die Geschichte einer Familie im Krieg, an einem Ort ohne Namen, die in vielen Gegenden der Welt spielen könnte. Wie in einem Kammerspiel, hochaktuell und zugleich von überzeitlicher Gültigkeit, erzählt der Roman in einer klaren und poetischen Sprache von Manipulation und Moral, von Bruderliebe und von einem Geheimnis.
Als ihre Großeltern ums Leben kommen, endet die Kindheit der Zwillinge Amed und Aziz abrupt. Einer der Brüder soll zum Märtyrer werden. Der unheilbar kranke Aziz darf aus religiösen Gründen nicht geopfert werden, sagt der Vater. Aber Amed hat Angst. Und seine Mutter will nicht beide Söhne verlieren.

Larry Tremblays Roman "Der Name meines Bruders" ist ein eindrucksvolles Plädoyer gegen den Krieg, in Kanada mittlerweile Schullektüre. Er wurde mit dem Preis der Buchhändler von Québec ausgezeichnet.