um die Jahrhundertwende
In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts machte eine neue Rotte rassistischer Politiker wie Ernst Henrici oder Otto Boeckl den Antisemitismus zum Kernstück umfassender politischer und sozialer Reformprogramme. Diese Politiker gründeten neue Parteien, die ihre größte Zustimmung bei den Wahlen von 1893 fanden, wo sie eine Viertelmillion von insgesamt sieben Millionen Stimmen erhielten.
In Österreich ging Georg von Schönerer von anfänglich liberalen Positionen zu einem antisemitischen Pangermanismus über. In seinem Linzer Programm von 1885 erklärte er die Beseitigung des jüdischen Einflusses aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens zur Vorbedingung von Reformen. 1897 wurde Karl Lueger Bürgermeister von Wien. Er erlangte das höchste Wahlamt der Donaumonarchie mit einem antisemitischen Programm, das antiliberal eingestellte Teile der Bevölkerung ansprach. Sobald Lueger im Amt war, bewegte er sich von seinem opportunistischen Antisemitismus hin zu einer sozialistischen Stadtpolitik, deren Ziel es war, die Vorteile des städtischen Lebens (öffentliche Dienstleistungen, Straßenbahnen, Arbeitsämter, Sparkassen) auch den arbeitenden Klassen zugute kommen zu lassen. Lueger war ein meisterhafter Redner, von dem Adolf Hitler, der in Luegers Wien heranwuchs, vieles lernte.
Frankreich erlebte in den Achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts Wellen von Antisemitismus. Edouard Drumonts
In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Antisemitismus zu einem Bestandteil des europäischen politischen Diskurses. Die Parteien und Politiker, die sich ihm verschrieben, scheiterten jedoch: Sie gewannen zwar einige Stimmen, aber nicht genug, oder sie blieben nicht ausreichend lange im Amt, um die Emanzipation einzuschränken oder abzuschaffen. Es gelang ihnen jedoch, den Antisemitismus zu einem kulturellen Code zu machen, der, untrennbar mit autoritären Staatsvorstellungen, Imperialismus, Rassismus und Antimodernismus verknüpft, alle Übel der Massengesellschaft kurieren zu können versprach. Deswegen bezeichnete August Bebel, der Führer der deutschen Sozialdemokratie, den Antisemitismus als den »Sozialismus des dummen Kerls«. Über Vereine, Studentenverbindungen und ähnliche Organisationen verbreitete sich dieser kulturelle Code in die Gesellschaft hinein und trug dazu bei, die Juden in eine Randstellung zu drängen.
Dieselben Entwicklungen, die die neue, auf die Massen ausgerichtete Politik und den Antisemitismus ins Leben riefen, verhalfen auch der Politik der Juden zu neuer Form. Während der Blütezeit des Liberalismus im 19. Jahrhundert beteiligten sich Juden an der Politik auf lokaler und staatlicher Ebene zugunsten des besonderen Anliegens der jüdischen Emanzipation, aber auch des Liberalismus überhaupt, von dem sie abhing. In Deutschland waren Johann Jacoby (1805-I877) und Gabriel Riesser (1806-1863), Eduard Lasker (1829-1884) und Ludwig Bamberger (1823-1899) Politiker von landesweitem Ruf, und viele weitere Juden bekleideten Ämter in Staat und Verwaltung. Das Entstehen des Antisemitismus in den Achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschwerte es den Juden, in staatliche Ämter zu kommen. und drängte zugleich die jüdische Politik in eine neue Richtung.
Als Reaktion auf den aufkommenden politischen Antisemitismus in Deutschland organisierten sich die Juden zum ersten Mal als politische Interessengruppe. Zu Anfang hatten die Führer des deutschen Judentums den Antisemitismus entweder ignoriert, in der Hoffnung, dass er wieder verschwinden werde, oder ihre Verteidigung Nichtjuden überlassen, etwa als 1891 liberale christliche Politiker und angesehene Gelehrte und Schriftsteller den »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« gründeten. Zwei Tatsachen belegen jedoch die Schwäche dieser Strategie: Die antisemitischen Parteien florierten, und es kam in Mitteleuropa zu einer Reihe von Ritualmordbeschuldigungen. Gleichzeitig eröffnete die Formierung von Interessengruppen, etwa des Bundes der Landwirte (1893), auch den Juden neue politische Optionen.
Im Jahre 1893 gründeten junge Akademiker den »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Viele von ihnen hatten den Antisemitismus an den Universitäten zu spüren bekommen. Die meisten der Gründer waren Juristen; der Verein besaß eine Rechtsabteilung, die mithilfe von Beleidigungsklagen antisemitische Politiker vor Gericht und hinter Gitter zu bringen suchte. Außerdem verbreitete der Zentralverein Informationsmaterial, um den Vorwürfen der Antisemiten entgegenzutreten. Der Verein wuchs stetig: Besaß er 1896 etwa fünftausend Mitglieder und neununddreißig angeschlossene Vereine, zählte er 1916 vierzigtausend direkte und über die Verbindung mit anderen Vereinen insgesamt zweihunderttausend Mitglieder (das entsprach zwei Fünfteln der deutschen Judenheit).
Der Zentralverein setzte sich für eine liberale Lösung der »jüdischen Frage« ein: Als organisierte Interessenvertretung verteidigte er das Recht der Juden auf eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft ebenso wie den Anspruch auf ihre besondere jüdische Identität. 1882 war in Österreich-Ungarn ein ähnlicher Verein, die Österreichisch-Israelitische Union, gegründet worden.
Der Hauptkonkurrent des organisierten Liberalismus um die Gunst jüdischer Anhänger war der Zionismus, der mit der Zusammenkunft des Ersten Zionistenkongresses in Basel (1897) zu einer politischen Bewegung wurde. Der Zionismus war insofern ein nachemanzipatorisches Phänomen, als er die Emanzipation als gescheitert ansah. Der Kulturkritiker und zionistische Vorkämpfer Max Nordau (1849-1943) meinte: »Das jüdische Elend hat zwei Formen: die materielle und die moralische.« Nach zionistischer Ansicht litten die osteuropäischen Juden unter Armut und Not, die west- und mitteleuropäischen Juden hingegen an geistiger Entwurzelung, oder, wie Achad Haam (1856-1927), der hebräische Essayist und Theoretiker des kulturellen Zionismus, es nannte, an einer »Sklaverei innerhalb der Freiheit«. Die Zionisten waren davon überzeugt, dass der Antisemitismus ein unvermeidlicher Bestandteil des jüdischen Lebens in der Diaspora sei.
Anders als die Anhänger der Emanzipation, die das Judentum nur als eine Religion betrachteten, bekräftigten die Zionisten, dass die Juden ein Volk seien und sprachen sich für dessen auf weltlich-politischem Wege zu erreichende Rückkehr in das Land Israel aus. Theodor Herzl (186o-1904), der Begründer des politischen Zionismus, der in seiner Schrift
Der Konflikt zwischen Liberalismus und Zionismus verschärfte die Auseinandersetzung zwischen den Ansässigen und den Zuwanderern. In Deutschland durften Zuwanderer, die nicht die Staatsbürgerschaft besaßen, gleichwohl an den Gemeindewahlen teilnehmen, da sie Gemeindesteuern zahlten. Ein großer Teil der osteuropäischen Einwanderer waren Zionisten, die sich dann mit den Orthodoxen verbanden, um die Liberalen zu verdrängen. Es kam zu bitteren Kämpfen, in denen die Einheimischen erfolglos versuchten, den Immigranten das Wahlrecht zu entziehen (so beispielsweise 1912 in Duisburg).
In England entspannen sich ähnliche Unstimmigkeiten, als erfolgreiche Immigranten, nachdem sie in das Vertretungsorgan der britischen Juden gewählt worden waren, versuchten, gegen den Widerstand der anglojüdischen Elite die Ziele des Zionismus voranzutreiben.
Nichtsdestoweniger blieb der Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg in West- und Mitteleuropa die Bewegung einer Minderheit innerhalb einer Minderheit. Jedoch gelang es ihm, eine Reihe begabter Persönlichkeiten anzuziehen, vor allem Intellektuelle wie etwa den Philosophen Martin Buber (1878-1965), für den der Zionismus eine jüdische Variante der neoromantischen Rebellion gegen das bourgeoise Leben bedeutete. In West- und Mitteleuropa war der Zionismus eine marginale Bewegung, die nur eine kleine, wenn auch wachsende Rolle im jüdischen Leben spielte.
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Auszug aus “Auf dem Weg in die Moderne“ von David Sorkin,
Abschnitt “Die erneute Umformung der Juden und des Judentums“, Seiten 272 bis 274
Aus “Illustrierter Geschichte des Judentums“, Herausgeber Nicholas De Lange,
Institut for Hebrew and Jewish Studies University of Cambridge,
Campus Verlag Frankfurt/New York 2000,
aus dem Englischen von Christian Rochow