Tatsächlich findet man im ganzen Gazastreifen kaum noch eine Familie, die nicht die Inhaftierung wenigstens eines Familienmitglieds durchgemacht hat. ( ... ) , der nächtliche Verhaftungen, Verhöre durch den Shabak (Israelischer Nachrichtendienst für die innere Sicherheit in Israel und den besetzten Gebieten), Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren oder lange Einzelhaft hinter sich hat.
Seit 1967 sind 280.000 Bewohner von Gaza durch israelische Gefängnisse und Befragungsräume gegangen. Nach Angaben der Vereinigung der ehemaligen palästinensischen Kämpfer und Häftlinge waren es allein während der Intifada 80.000.
Überall in Gaza, wo Menschen zu öffentlichen oder privaten Veranstaltungen zusammenkommen, treffen sich alte Gefängniskameraden. Gefängniserinnerungen, Gefängnisklatsch und Gefängnisjargon beherrschen jedes Gespräch. ( ... )
Bei all den Gefängnisgesprächen sagen die meisten Exhäftlinge jedoch wenig über die Traumatisierung, die sie davongetragen haben, und zwar gerade deshalb, weil so viele die gleichen Erfahrungen gemacht haben, aber auch, weil die Menschen in Gaza nur selten von den emotionalen Aspekten ihrer Leiden reden.
Palästinenser, die Jahre mit zwölf anderen Männern in einer winzigen Zelle oder einem umdachten Zelt im Gefangenenlager Ansar verbracht haben, sind selten bereit, über ihre seelische Traumatisierung zu sprechen. Sie reden lieber von ihrem Stolz auf ihre Reife und Stärke und die Einigkeit ihrer Gruppe. Im Gespräch wechseln sie rasch das Thema und erzählen von ihrem neuen Leben, davon, wie froh sie sind, arbeiten zu können.
Nur sehr wenige Männer werden zugeben, daß eine Diskrepanz besteht zwischen ihrer erfolgreichen Wiedereingliederung ins öffentliche Leben und ihren quälenden persönlichen Verhältnissen, ihrer schwierigen Anpassung an eine Welt, die sich ohne sie weitergedreht hat.
«Du bist nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe», sagte Ibrahim Abu Nadas Frau drei Tage nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. «Die Worte waren wie ein Messerstich in meine Seele», vertraute er mir an, aber sie machten ihn auch auf die Not seiner Mitgefangenen und ihrer Familien aufmerksam. «Wenn es tausend Gefangene gab, dann gab es auch tausend Frauen, die verletzt worden waren», sagte Abu Nada.
( ... )
Abu Nada ist Krankenpfleger und arbeitet im städtischen Zentrum für Psychiatrie in Gaza.
Dort leitet er ein Experiment für Gruppentherapie mit etwa zwanzig ehemaligen Häftlingen. Der Leiter des Zentrums, Eyad al-Sarra hofft, das Projekt ausweiten zu können und Hunderte von Männern anzusprechen, und die Hoffnung, daß infolge der Abkommen von Oslo mehr Gefangene heimkehren werden, hat ihn veranlaßt, seine Anstrengungen zu beschleunigen. Neben der Beratungsarbeit bemüht sich das Zentrum, der palästinensischen Gesellschaft klarzumachen, daß die Gefängniserfahrung nicht mit der Entlassung des Häftlings endet und daß psychologische Hilfe nicht weniger wichtig ist wie physische Rehabilitation.
Der erste Schritt der Therapie besteht darin, die Männer dazu zu bewegen, sich auszusprechen, ihre Verlegenheit abzuschütteln und öffentlich über das zu reden, was sie durchgemacht haben. Die meisten Gefangenen haben die Tendenz, auch vor sich selbst nicht zuzugeben, daß ihre Selbstachtung beschädigt ist, ein Gefühl, das sie alle verfolgt.
Die Hausdurchsuchung ist der erste Einbruch in die Privatsphäre, der seine Spuren hinterläßt, ob eine Verhaftung stattfindet oder nicht. Wenn ein Dutzend Soldaten nachts in das Haus eindringen, das Mobiliar zertrümmern und Familienmitglieder vor den Augen einer alten Mutter oder verstörter Kinder demütigen, sind Scham und Schock die unvermeidliche Folge.
Nach der Durchsuchung reagiert man mit Schrecken auf jeden Lärm, aber was noch schlimmer ist, ist der Verlust des Vertrauens. Man beginnt seine Kollegen und Nachbarn zu verdächtigen, dem Shabak Namen genannt zu haben. Man ist sich ganz sicher, daß ein Kollaborateur beteiligt gewesen sein muß. Wie sonst hätten einen die Soldaten in dem Labyrinth der Gassen des Lagers finden sollen?
Dann kommt die Verhaftung. Tawfiq al-Mabhuh von der Vereinigten Nationalen Führung erinnert sich an seine Verhaftung im Jahr 1988.
Es war nicht seine erste, aber deshalb nicht weniger traumatisch. «Meine Frau stand kurz vor der Entbindung. Während der ganzen ersten Monate der Intifada kamen die Soldaten ständig in unser Viertel, brachen in das Haus ein und suchten nach mir, aber meine Familie wollte nicht, daß ich mich stellte.
Eines Nachts kamen die Soldaten wieder um Mitternacht. Sie warfen eine Tränengasgranate ins Haus, schlugen meine Frau, meine Kinder und meine Mutter und sagten, daß sie uns auslöschen würden, wenn ich mich nicht stellen würde. Meine Frau atmete sehr viel Tränengas ein, und sie brachten sie bewußtlos ins Shifa-Hospital.
Jemand, der wußte, wo ich mich versteckt hielt, rief mich ins Krankenhaus. Als ich dorthin kam, hatte sie einen Jungen, Shafiq, geboren, aber sie war immer noch bewußtlos.
Ich wartete eine Stunde oder länger, bis sie wieder zu sich kam. "Jetzt möchte ich, daß du dich stellst", sagte sie. Ich hatte meinen Nachfolger in der UNL (Unified National Leadership) eingearbeitet und gerade zwei neue Flugblätter verfaßt. So hinterließ ich alles in guter Ordnung.»
Mabhuh ging zum Gefängnis von Gaza. ( ... ) Wie die meisten anderen ehemaligen Gefangenen wollte Mabhuh nicht über das Verhör selbst sprechen.
Etwas mehr über die Verhöre erfuhr ich von A. I., der I985 wegen des Verdachts verhaftet wurde, während des Libanonkrieges auf Seiten der palästinensischen Truppen gekämpft zu haben (tatsächlich hatte er sich als Student in Osteuropa aufgehalten).
«Sie zogen mir einen Sack über den Kopf», berichtete er, «und banden mir die Hände auf dem Rücken zusammen. Manchmal banden sie meine Hände an einer Röhre hinter meinem Rücken fest. Manchmal schnürten sie mich zusammen und ließen mich stundenlang oder sogar tage- und nächtelang auf dem Fußboden liegen.
Ein- oder zweimal am Tag holten sie mich zum Verhör, schlugen mich, quetschten meine Hoden, machten die Handschellen enger und gossen mir Eiswasser auf den Rücken.
Sie sagten ständig, daß sie alles über mich wüßten, aber daß ich ihnen jetzt selbst alles sagen müßte, was ich getan hätte. Tatsächlich rückten sie aber mit sehr wenig heraus, was sie wußten. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel.
Diab al-Luh, ein Mitglied der Fatah, wurde tagelang mit am Rücken gefesselten Händen liegengelassen. Nach seiner Entlassung mußten seine Freunde ihn füttern, weil er die Hände nicht bewegen konnte.
Die Aussagen mehrerer hundert ehemaliger Gefangener, die in Eyad al-Sarrajs psychiatrischem Zentrum behandelt wurden und die Fragebogen ausfüllten, ließen darauf schließen, daß die Verhöre Wunden hinterließen, die auch noch nach zehn Jahren weiterschwärten. Tausende von Häftlingen haben ähnliche Methoden und Mißhandlungen beschrieben, die auch in keinem Zusammenhang mit der Schwere des Vergehens standen, das dem jeweiligen Verdächtigen vorgeworfen wurde. Es handelte sich also wohl eher um eine routinemäßige Vorgehensweise als um Einzelfälle.
Abu Nada vom psychiatrischen Zentrum beschreibt die Prozedur:
«Vier Shabak-Männer legen den Gefangenen auf den Rücken. Einer springt auf seinen Beinen herum, der zweite auf seiner Brust, der dritte auf seinen Genitalien. Der vierte hält dem Gefangenen Mund und Nase zu, so daß er nicht atmen kann. Jemand schaut dabei auf die Uhr. Manchmal ist auch ein Arzt anwesend, der die Prozedur überwacht.
Dann ziehen sie dem Gefangenen einen stinkenden Sack über den Kopf. Der Gefangene kann nichts sehen und Tag und Nacht nicht unterscheiden. Er verbringt Tage ohne Schlaf, ohne ausreichende Nahrung und ohne auf die Toilette gehen zu dürfen. Nach diesem Aufweichverfahren oder auch gleichzeitig beginnen sie mit dem Verhör, das zusätzlich zur physischen Folter auch immer noch von psychologischen Demütigungen begleitet ist: «Wenn wir dich hier rausschleifen, wirst du kein Mann mehr sein. Du wirst keine Kinder mehr zeugen können. Wir holen deine Frau und deine Mutter her und bumsen sie vor deinen Augen.» Manchmal stoßen sie homosexuelle Drohungen aus. Männer, die sich tagelang zurückgehalten haben, um nicht in die Hosen zu urinieren oder defäkieren, entwickeln physische Leiden wie Nierensteine. Andere, die sich nicht mehr zurückhalten konnten, verlieren ihre Selbstachtung und fühlen sich noch lange danach gedemütigt. Die sexuelle Erniedrigung kann Jahre später sexuelle Funktionsstörungen verursachen. Manche Männer werden durch die Verletzung ihrer Geschlechtsorgane zeugungsunfähig. »
Ein Gefangener, der später von den palästinensischen Sicherheitskräften verhört wurde, hebt die Effektivität der Methoden des Shabak hervor: «Ersticken, Schläge auf die Genitalien, Druck auf die Brust - sie beherrschen das alles ganz hervorragend. Sie hinterlassen keine verräterischen Spuren. Nicht wie die Verletzungen, die unsere Leute den Gefangenen zufügen, die sie dann wochenlang in eine Zelle stecken müssen, bis die Spuren wieder verschwinden.»
Ghazi Abu Jiab, ein Volksfront-Aktivist, wurde 1969 im Alter von siebzehn Jahren zu mehrfach lebenslänglicher Haft verurteilt, wurde jedoch nach sechzehn Jahren anläßlich eines Gefangenenaustauschs entlassen. Von sich aus erzählt er gewöhnlich sehr wenig über seine Gefangenschaft. ( ... )
Quelle:
Amira Hass GAZA, Tage und Nächte in einem besetzten Land, C.H. Beck 2003, Seiten 221 bis 225