Der unerträgliche Standpunkt

Heinz Kobald

  
 
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Die Abriegelung der besetzten Gebiete und ihre Folgen

Seit Israel die folgenschwere Abriegelung von 1993 verhängt hat, hat sich ein wirtschaftlicher Zyklus herausgebildet, und seine Folgen werden im Laufe der Zeit immer schlimmer.
Es fängt damit an, daß die Arbeiter ihre Arbeitsplätze in Israel nicht erreichen können.
Dann stellen sie alle Käufe ein, mit Ausnahme von Nahrungsmitteln und ein paar anderen unentbehrlichen Dingen, womit sie den Einzelhändlern, den Importeuren und Fabrikanten schaden.
Im ganzen Gazastreifen bleiben die Leute ihre Strom- und Wasserrechnungen schuldig, so daß die Gemeinden mit ihren schwindenden Einnahmen ihre Angestellten nur mit Verzögerung bezahlen können und das palästinensische Finanzministerium keine Steuereinnahmen hat.
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Sie können ihre minimale Gesundheitsvorsorge und das Schulgeld für ihre Kinder nicht mehr bezahlen und müssen auf die Ersparnisse zurückgreifen, die sie eigentlich für die Ausbildung ihrer Kinder oder die Vergrößerung ihrer Häuser vorgesehen hatten.
Allmählich gehen sie dazu über, billigere und weniger Nahrungsmittel zu kaufen und die Märkte nach Resten von schlechter Qualität zu durchstöbern. Obst und Fleisch sind unerschwinglich.
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Die Menschen im Gazastreifen leiden schon seit langem unter weitverbreiteten Gesundheitsproblemen, die wesentlich durch den emotionalen Streß mitverursacht werden:
hohem Blutdruck, Infektionen der Atemwege, Kopfschmerzen.
Nach Aussage von Rabah Mohana, dem Leiter der Vereinigung der Komitees für Gesundheitsdienste, einem Netzwerk nichtstaatlicher Kliniken, die vor der Intifada von der DFLP (Demokratische Front für die Befreiung Palästinas) und PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas) gegründet wurden, verschlimmern sich diese Gesundheitsprobleme mit jeder hermetischen Abriegelung.
60 Prozent der Kinder in Gaza leiden an Anämie, und 90 Prozent haben Würmer. Wenn man die Parasiten bekämpfen will, muß man die ganze Familie behandeln, aber wenn die Grenzen geschlossen sind, können die Familien die Medikamente nicht bezahlen.

Man muß kein Wirtschaftsfachmann oder Nachrichtendienstexperte sein, um die Kette von Schäden zu erkennen, die durch die Abriegelungen verursacht werden, und zu begreifen, welche Folgen sie auf die Dauer haben werden. Und man muß auch kein Wissenschaftler sein, um den Zusammenhang zwischen allgemeinem Elend und anderen besorgniserregenden Erscheinungen zu erkennen:
Etwa 15 Prozent der Kinder unter fünf Jahren zeigen Anzeichen von Unterernährung, die sich in Untergewicht und verzögertem Wachstum äußern. Aus einer Studie der schweizerischen Organisation Terre des hommes geht hervor, daß 28.576 von schätzungsweise 188.ooo Kindern unter fünf Jahren dringend eine Behandlung wegen Unterernährung benötigen. Am häufigsten tritt dieses Problem im Süden des Gazastreifens und in den Flüchtlingslagern auf, wo 20 Prozent der Kinder untergewichtig sind und 22 Prozent unter Wachstumsstörungen leiden. In Gaza-Stadt sind es 8,9 und 10, 2 Prozent.
Nach den Unterlagen von Terre des hommes sind 9 Prozent der Kinder dieses Alters in Ägypten und Jordanien untergewichtig. In einer gesunden, gut ernährten Bevölkerung sind es 2,5 Prozent.
Aus der Studie geht hervor, daß die Unterernährung nicht durch einen Mangel an Nahrungsmitteln hervorgerufen wird. «Mehr als alles andere spiegelt sie die ständig schwindende Kaufkraft wider, deren Ursache die Intifada, der Golfkrieg und die Abriegelungen sind.

Hinzu kommen Luft- und Wasserverschmutzung, unhygienische Lebensbedingungen und eine mangelhafte Verteilung der vorhandenen Ressourcen.» Die Verwendung von verschmutztem Wasser für Milchersatz (also Babynahrung) spielt ebenfalls eine Rolle.
Ferner geht aus der Studie hervor, daß im Jahr I995 41,6 Prozent der Familien in Gaza Besitztümer verkaufen mußten, um Nahrung zu kaufen. 53,8 Prozent liehen sich Geld, um Nahrungsmittel kaufen zu können. Nur 5 Prozent besaßen Ersparnisse.
Eine Veränderung der Essensgewohnheiten war bei 56 Prozent zu verzeichnen, und von diesen sagten 86,2 Prozent, daß es eine Veränderung zum Schlechteren sei. Dennoch sagten «nur» 10,3 Prozent dieser Familien aus, daß sie während der zweiten Hälfte des Jahres 1995 auf Wohlfahrtsunterstützung angewiesen gewesen seien. Diese relativ niedrige Prozentzahl ist auf das palästinensische Familiennetzwerk gegenseitiger Unterstützung zurückzuführen und spiegelt nicht die tatsächliche Ausbreitung der Armut wider. In Wirklichkeit lebten im Jahr 1995 36,3 Prozent der Bevölkerung von Gaza unterhalb der Armutsgrenze ($ 650 pro Person im Jahr).
( Nach Berichten der Vereinten Nationen lebten Ende 1997 40,4 Prozent der Menschen in Gaza und 11,1 Prozent der Bevölkerung des Westjordanlandes unterhalb der Armutsgrenze. )

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Ein Beamter der Weltbank sagte mir, daß es ihm den Magen umdrehe, mit ansehen zu müssen, wie die besten palästinensischen Köpfe ihre Energie und ihre Talente darauf verschwendeten, einen Antrag nach dem anderen zu stellen, statt ihre Zeit dafür zu nutzen, ein echtes Wirtschaftsprogramm mit klaren, durchführbaren Richtlinien für potentielle Investoten zu entwerfen.

Auch führende palästinensische Politiker beteiligten sich an der Kritik und den Beschwörungen und drohten gelegentlich, keine israelischen Waren mehr in die Gebiete zu lassen, die der Sulta unterstanden. Aber angesichts der vollständigen Abhängigkeit der palästinensischen Wirtschaft von Israel waren das leere Drohungen. Im Endeffekt bestand eine riesige Diskrepanz zwischen den scharfen Erklärungen, die die Autonomiebehörde in regelmäßigen Abständen abgab, und ihrer Machtlosigkeit


Quelle:
Amira Hass „GAZA“, Tage und Nächte in einem besetzten Land, C.H.Beck 2003, Seiten 316 bis 318