Der unerträgliche Standpunkt

Heinz Kobald

  
 
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Menschliche Schutzschilde und das Völkerrecht
Die Frauen von Beit Hanun, Foto: Reuters



Die Frauen von Beit Hanun



Zitat:
»Nach einem Angriff auf eine Moschee in Beit Hanun rief die radikalislamische Hamas Frauen dazu auf, sich den Kämpfern als menschliche Schutzschilde zur Verfügung zu stellen.« ( 1 )

Zitat:
»Der öffentliche Aufruf an Zivilisten, sich als "menschliche Schutzschilde" zur Verfügung zu stellen, ist eine klare Verletzung der genfer Konventionen.
Ein noch weitaus schwerwiegenderes mutma0liches Kriegsverbrechen ist allerdings zweifellos die Eröffnung des Feuers auf diese unbewaffneten Zivilisten.«
( 2 )

Menschen, die sich freiwillig, aus eigenem Willen vor einen anderen Menschen stellen, der in Gefahr ist, erschossen zu werden, begehen keinen Bruch des Völkerrechts.
Auch nicht derjenige, der diesen Schutz vor dem Erschießen genießt.

Wer seinen Karl May noch nicht vergessen hat, der wird sich gewiß noch an solche Bilder erinnern, in denen ein Freund einen anderen Menschen, der ihm lieb ist, mit seinem eigenen Körper vor dem Schuß eines Feindes und damit vor dem Tod gerettet hat.
Dieser Schutzdienst für einen Freund durch Selbstaufopferung kann kein Bruch des Völkerrechts sein.
Hier hat der so Geschützte seinen Freund nicht als Schutzschild "benützt". Denn dieser Schutz ist ihm ohne seine Gewaltanwendung gegen seinen Freund von diesem freiwillig gewährt worden.

Das Verbot des Völkerrechts, sich hinter Menschen als Schutzschilde zu verstecken, zielt auf einen ganz anderen, das Leben eines Menschen verachtenden Tatbestand: auf den gewaltsamen Zwang, mit dem sich jemand seiner möglichen Erschießung im Kampf des Körpers eines anderen lebenden Menschen gegen dessen Willen "bedient".

Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten
Teil III - Status und Behandlung der geschützten Personen
Abschnitt I - Gemeinsame Bestimmungen für die Gebiete der am Konflikt beteiligten Parteien und die besetzten Gebiete
Art. 28
"Keine geschützte Person darf dazu benützt werden, um durch ihre Anwesenheit militärische Operationen von gewissen Punkten oder Gebieten fernzuhalten."

Was ist aus den Worten "benützt werden" zu verstehen?

Allein die Aufforderung an andere Personen, sich als Schutzschilde zur Verfügung zu stellen, kann demnach noch kein Bruch des Völkerrechts sein. Die Aufforderung selbst erfüllt den Tatbestand des "Benützens" noch nicht.
Ob es jedoch ihre Befolgung durch die dazu aufgeforderten anderen Personen aus deren eigenen Willen als die vollendete Tat dann ist, mag ebenso zweifelhaft sein. Ihre Anwesenheit am Ort des Kampfes ermöglicht zwar ihre Benützung als Schutzschild, doch haben sie es selbst entschieden, sich für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen.

Sinngemäß ist das Wort "benützen" wohl eher mit einer Gewaltanwendung verbunden, mit der ein sich selbst Schützender eine andere Person als seinen Schutzschild gebraucht. Die andere Person muß wohl schon gegen ihren Willen zu dieser Funktion als Schutzschild gezwungen werden.
Erst dieser Tatbestand kann aus der Sicht der Menschlichkeit als Bruch des Völkerrechts angesehen werden.
Das oberste Gebot des Völkerrechts, dem es sich verpflichtet sieht, ist der Schutz der Menschlichkeit.

Darum ist in diesem Artikel nicht die freiwillige Anwesenheit von zivilen Personen an einem Platz verurteilt, von dem militärische Operationen ferngehalten werden sollen.
Das kann das Völkerrecht nicht wollen, einem gewaltlosen Gegenübertreten von zivilien Personen vor die militärische Macht von bewaffneten Soldaten den Boden des Rechts zur Demonstration zu entziehen.

Eine andere strafbare Handlung, die hier anklingt, ist die Beihilfe zur Flucht eines Straftäters.
Mit anderen Worten die Behinderung oder Vereitelung seiner Festnahme durch die Vollziehende Staatsgewalt.

Wird damit begonnen, in die strafbaren Tatbestände, die von beiden beteiligten Seiten im Kampf um Palästina begangen werden, an einem Punkt einzudringen, so entblättert sich die gesamte Kompliziertheit dieses Geschehens.

In diesem Zusammenhang ist auch nachzufragen, welche völkerrechtliche Grundlage es der Armee Israels erlaubt, im Gaza polizeiliche Maßnahmen oder militärische Einsätze nach der offiziellen Beendigung der Besatzung und der Besiedlung vorzunehmen.

Ganz eindeutig ist der Status einer Besatzungsmacht für Israel im Gaza seit ihrem Abzug im August 2005 beendet.
Damit hat Israel endlich nach 38 Jahren eine eindeutige Forderung des Völkerechts erfüllt.

Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten
Art. 49 ( Abs. 6 )

»Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.«

Israel tat dies auch nicht aus Gründen der "Menschlichkeit" oder der Einsicht in seine Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, sondern aus eigenen staatspolitischen Erwägungen.
Diese Überlegungen wurden wohl mehr von dem Unverhältnis zwischen den finanziellen Aufwendungen für die Siedlungen und deren miltärischen Schutz durch die Besatzung und Besiedlung des Gaza und ihrem wirtschaftlichen "Gewinn" bestimmt.

Dazu erging davor noch eine Entscheidung seines Obersten Gerichts, das auf den Gaza keinen Anspruch des heutigen Israels als Teil des Biblischen Judäa erkannte. Was gegenüber dem Verbot der Besiedlung im Geltenden Völkerrecht ohnehin eine obsolete Feststellung war und dem Staat Israel keineswegs zum Anschein einer Demokratie verhilft.

Fest steht jedoch die Tatsache, daß der Staat Israel im Gaza keine Rechte als Besatzungsmacht hat und ausüben darf, es sei denn, er will die Besatzung im Gaza wieder errichten.

Ganz außer Zweifel steht, daß eine vorsätzliche Verletzung oder Ermordung sog. Menschlicher Schutzschilde durch das Völkerrecht nicht "erlaubt" ist.

Terrorismus oder bewaffneter Widerstand ?

Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten
Teil 1 - Allgemeine Bestimmungen
Art. 2 ( Abs. 2 )

»Das Abkommen ist auch in allen Fällen vollständiger oder teilweiser Besetzung des Gebietes einer Hohen Vertragspartei anzuwenden, selbst wenn diese Besetzung auf keinen bewaffneten Widerstand stösst.«

Daß eine Besatzungsmacht einem Bewaffneten Widerstand aus der Bevölkerung gegenüber stehen kann, wird durch diesen Wortlaut vom Völkerrecht anerkannt. Hier wird der Gedanke für die letzte Möglichkeit zum Widerstand mit Waffen aus der Präambel der Eklärung der Menschenrechte in den Wortlaut des Völkerrechts übernommen.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948
Präambel ( Abs. 3 )

» ... da es notwendig ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen, ... «

Es ist daher unverantwortlich und in hohem Maße entwürdigend, die Kämpfer gegen die Besatzung durch Israel unisono als Terroristen zu brandmarken.
Dies geschieht in meinen Augen und zu meinem Bedauern in einem erdrückenden Übermaß gegenüber den äußerst seltenen Hinweisen auf das Recht für einen bewaffneten Widerstand der Palästinenser.
Ganz offensichtlich wird hier das primäre Recht auf Selbstverteidigung der Palästinenser gegen eine völkerrechtswidrige Besatzung und Besiedlung nur aus dem einen Ungleichgewicht "übergangen", weil Israel für jede seiner Militäraktionen sofort und laut sein Recht auf Selbstverteidigung zu Gehör bringt.

Selbst wenn es sich dabei in seinem Verständnis als Jüdischer Staat unmäßig über das Biblische Gebot "Auge um Auge, Zahn um Zahn" anmaßend hinweg setzt.
Diese Worte werden auch heute noch von einer sich zivilisiert und christlich nennenden Europäischen Gemeinschaft in einem barbarischen Sinne ausgelegt, Gewalt ist stets nur mit Gewalt zu beantworten.
Das ist jedoch keinesfalls ihr Kern.
Vielmehr ist aus diesen drei Versen eindeutig nicht die Aufforderung zur rohen Gewalt zu verstehen, sondern eine maßvolle Vergeltung, die nicht über den angerichteten Schaden hinausgehen soll. ( 3 )

Das zweite Buch Mose (Exodus).
Verordnungen zum Schutz von Leib und Leben.

»21.23 Falls aber ein [weiterer] Schaden entsteht, so sollst du geben Leben um Leben,«
»21.24 Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuss um Fuss,«
»21.25 Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme.«

Das Christliche Bekenntnis von Herrn Kauder

Zitat:
»Volker Kauder erwähnt oft, wie bestimmend sein Glaube für sein politisches Handeln sei. ( ... ) Er möchte mit dem Patriarchen Michel Sabbah darüber sprechen,
"welchen Beitrag wir Christen im Konflikt der Palästinenser und der Israelis leisten können".

Sabbah nickt. Gern will er über die Lage der Christen sprechen. Dann sagt er:
"Wenn ich über die Lage der Christen spreche, dann spreche ich über die Palästinenser."
Und so spricht der Patriarch, selbst Palästinenser, nur vom bedrängten Leben in den von Israel besetzten Gebieten. ( ... ) "Israel geht nicht den richtigen Weg zum Frieden", sagt er.
"Die Gewalt kommt von der Besetzung."
Er spricht von Verhaftungen, von Todesschüssen und Zerstörungen durch Israels Armee.
Er klagt über die internationale Politik, die Israel zu Füßen liege.

Bald wird der Fraktionschef unruhig. ( ... ) Kurz darauf beendet er das Gespräch mit einem Dankeswort:
"Ich wünsche, dass wir Christen ein Segen für diese Region sein können." Er klingt nicht überzeugt.«
( 4 )

Herr Volker Kauder hat bei seiner Reise nach Jerusalem gefragt, was wir als Christen tun können.
Nun, sich jedenfalls nicht so verstummt und eilig vom Patriarchen in Jerusalem zu verabschieden, als der ihm offenbarte, unter welcher Unmenschlichkeit hier die Christen mit den Palästinensern unter der Besatzung und Herrschaft der Israelischen Armee und Verwaltung leiden.

Dazu hat er sich auch der Aufforderung aus dem auch für ihn geltenden Grundgesetz entwunden,

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Artikel 1 - Menschenwürde; Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt

( 2 ) »Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.«

Allein diese Betrachtung seines Verhaltens vor dem Grundgesetz gewährt einen beängstigenden Einblick in das Maß seiner Bereitschaft, welchen Verpflichtungen er Willens ist, sich zu "widmen".
Die ihm "entschlüpfte" Frage kann ich keiner christlichen Einstellung zuordnen. Seine Frage verweist den Standpunkt des Herrn Kauder in die entgegengesetzte Richtung.

Wenn diese "Flucht" dem Fraktions-Vorsitzenden einer Regierungs-Verantwortung tragenden Partei "gelingt", dann nimmt es nicht Wunder, wenn dieser Demokratie, die uns in ihren höchsten Repräsentanten so inkompetent begegnet, eine Bevölkerung mit dem tiefsten Mißtrauen gegenüber steht. ( 5 )

Dieses Geschehen hat mir auch einen Zugang zu der Tatsache eröffnet, warum aus der Mitte dieser Fraktion ein sog. "Ungeschriebener Verfassungsgrundsatz" für ein "Existenzrecht des Staates Israel" entwildern konnte. Und wie der doch juristisch gebildete Verstand in verschiedenen Köpfen dabei als Geburtshelfer hantierte.

Das "Übergehen" der im Völkerrecht festgelegten Rechte der Bevölkerung in dem durch Israel Besetzten Gebiet ist gewiß auch der "Vergessenheit" der diese Unbewertung unterstützenden Politiker Europas anzulasten.
Im Besonderen der in der Deutschen Presse zu beobachtenden journalistischen Pflichtvergessenheit zu einer sachlichen und ausgewogenen Berichterstattung als zu einer emotional lastigen Meinungsbildung.


18 Cheshvan 5767 * 9. November 2006 © Heinz Kobald


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( 1 ) FAZ, 03. November 2006, Text: AP, Bildmaterial: AFP
Gazstreifen - Israels Armee tötet fünf Palästinenser

( 2 ) Leserbrief in der FAZ zu diesem Artikel
"Sind es Kriegsverbrechen?! - Marianne Arts (Miracle) - 04.11.2006, 07:41"
( Schreibfehler im Text sind aus dem Original-Wortlaut übernommen )

( 3 ) "Gieß deinen Zorn aus über die Heiden!" - Produziert Religion Gewalt?
Autor: Christian Feldmann - Redaktion: Bernhard Kastner -
Bayerischer Rundfunk - Bayern2Radio - radioWissen - Manuskript

( 4 ) Süddeutsche Zeitung, 2. November 2006, Seite 6
Mehr als nur Symbole - Unions-Fraktionsvorsitzender Volker Kauder
wollte bei seiner Israel-Reise keine Außenpolitik machen - eigentlich
Von Jens Schneider

( 5 ) Die Welt, Artikel erschienen am 05.11.2006

Demokratie - Bedingt regierungsfähig
Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosenzahl sinkt,
trotzdem verlieren die Volksparteien das Vertrauen der Bürger. Union und SPD sind ratlos.
Ist die Demokratie als solche in Gefahr? Die Anzeichen dafür mehren sich
Von Günther Lachmann, Mitarbeit: Jan Rübel