Wie verwirrt Europa denkt, zeigt Jacque Schusters Frage nur zu deutlich.
Deutlicher hätte dieses Zeugnis über Europas Bewußtsein für das Völkerrecht wohl kaum ausfallen können.
Das Völkerrecht vergessend, fragt er sich, was haben die Europäer mit der Anarchie in Palästina zu tun?
Das verwundert mich nicht nur sehr, sondern es ist ein Schlag in mein Gewissen.
Zitat: ( * )
»Man mag einiges gegen die Stürmung eines palästinensischen Gefängnisses durch die Israelis einwenden, doch was haben die Europäer damit zu tun?
Die palästinensischen Extremisten denken anders. Sie entführen einfach mal so zwei Franzosen und einen Schweizer.
Also: Nichts Neues aus dem Nahen Osten.«
Was haben die Europäer denn nun wirklich damit zu tun,
a) wenn Eliteeinheiten der IDF eine Haftanstalt der Palästinensischen Autonomiebehörde in Jericho erstürmen und als Vergeltung dafür
b) politisch extrem handelnde Palästinenser Büros von Ausländischen Vertretungen in Brand stecken und Ausländer entführen, die sich gerade im Lande aufhalten
Nicht nur die palästinensischen Extremisten denken da anderes.
Auch ich, aber ich denke da eben auch in einem anderen Sinne.
In einem Punkt kann ich Herrn Jaques Schuster zustimmen:
Nichts Neues im Nahen Osten.
Jedoch beruhigt mich diese Zustimmung keineswegs.
Sind nicht die Rechtsstaatlichen Demokratien Europas die Unterzeichnerstaaten der IV. Genfer Konvention von 1949 ?
Sind sie nicht mit ihrer Unterzeichnung die Verpflichtung eingegangen, die Durchsetzung der Konvention unter allen Umständen zu bewirken?
Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten
Abgeschlossen in Genf am 12. August 1949
Art. 1
»Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, das vorliegende Abkommen unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen.«
Jedoch ist diese Verwirrung in Europa - und in der hier veröffentlichten Frage von Jacques Schuster - eine Folge des Vergessens oder des Verschweigens der Geltung des Völkerrechts im Kampf um das Land in Palästina.
Eine Frage an das Gewissen der Europäer:
Trägt nicht auch dieses Verhalten - die Vergessenheit und die Tatenlosigkeit der Europäer - an der Anarchie in Palästina eine nicht geringe Mitschuld ?
In den Tagen des Internet ist es wirklich kein Problem, sich selbst zu unterrichten, also informiert zu sein, um für seine Orientierung eine Zielausrichtung zu finden.
Dann blieben uns nicht nur derartige Fragen erspart, sondern auch die Zahlungen an die Palästinenser, um sie "am Leben" zu erhalten.
Hier greift wiederum das Völkerrecht. Die Verpflichtung der Besatzungsmacht, die Bevölkerung mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen.
Die größte politische "Unvorsichtigkeit" von Herrn Jaques Schuster ist aber die Rechtfertigung für Ehud Olmert, sich mit dieser "Erstürmung" als Falke für den Wahlkampf in Israel profilieren zu dürfen.
Einen geschmackloseren politischen "Witz" kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen.
Zitat: ( * )
»Vorerst muß sich der Wahlfavorit, Israels amtierender Premierminister Ehud Olmert, als Falke geben, um von seinem Herausforderer Benjamin Netanjahu nicht als Fliegengewicht abgedrängt zu werden.
Auch aus diesem Grund haben israelische Sicherheitskräfte das Gefängnis in Jericho gestürmt.«
"Der Wahlfavorit muß sich als Falke geben?" Und allein das soll eine Rechtfertigung für jeglichen Bruch Internationalen Rechts sein dürfen?
Wäre es nicht so zu lesen, wollte ich es nicht für möglich halten.
Zum Abschluß noch ein Beweis der Verwirrung und der Unkenntnis des Völkerrechts:
Zitat: ( * )
»Dann könnten auch die Europäer wieder ins Spiel kommen. Ihr Ziel muß sein, die Hamas zu einem Partner zu erziehen. Das mag über den schrittweisen Einsatz von Finanzmitteln geschehen:
Europa stellt Bedingungen, für deren Erfüllung die Gelder in Raten gezahlt werden ... «
"Dann könnten die Europäer wieder ... " Sie könnten schon seit sehr langer Zeit. Aufgrund ihrer Verpflichtung durch die Genfer Konvention müßten sie sogar.
Bei einem "Partner" jedoch - ist nach meiner Auffassung - die "Erziehung" nach dem Völkerrecht bisher "versäumt" worden.
Darum sollen hier auch drei der bedeutungsvollsten Forderungen in der Genfer Konvention wiederholt genannt werden:
Das Verbot der Besiedlung für die Besatzungsmacht:
Art. 49 ( 6 )
»Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.«
Die Pflicht der Besatzungsmacht für die Versorgung der Bevölkerung:
Art. 55 ( 1 )
Die Besetzungsmacht hat die Pflicht, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs— und Arzneimitteln mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen; insbesondere hat sie Lebensmittel, medizinische Ausrüstungen und alle anderen notwendigen Artikel einzuführen, falls die Hilfsquellen des besetzten Gebietes nicht ausreichen.
Das Verbot der Tötung für alle Beteiligten:
Art. 3
Im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist und der auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht, ist jede der am Konflikt beteiligten Parteien gehalten, wenigstens die folgenden Bestimmungen anzuwenden:
1. Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschliesslich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die infolge Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeiner anderen Ursache ausser Kampf gesetzt wurden, sollen unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden, ohne jede Benachteiligung aus Gründen der Rasse, der Farbe, der Religion oder des Glaubens, des Geschlechts, der Geburt oder des Vermögens oder aus irgendeinem ähnlichen Grunde.
Zu diesem Zwecke sind und bleiben in bezug auf die oben erwähnten Personen jederzeit und jedenorts verboten:
a. Angriffe auf Leib und Leben, namentlich Mord jeglicher Art, Verstümmelung, grausame Behandlung und Folterung;
b. die Gefangennahme von Geiseln;
c. Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung;
d. Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmässig bestellten Gerichtes, das die von den zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet.
( ... )
Die Anwendung der vorstehenden Bestimmungen hat auf die Rechtsstellung der am Konflikt beteiligten Parteien keinen Einfluss.
Dazu darf ich die erhaltene Antwort aus dem Völkerrechtsreferat zitieren:
»Betreffend die Ausführungen zum IV. Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zum Schutze der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten ist darauf hinzuweisen, dass dieses Abkommen nach Ansicht der Vereinten Nationen, die von der Staatengemeinschaft - einschließlich Deutschlands - geteilt wird, in den von Israel besetzten Palästinensischen Gebieten Anwendung findet. Daher wird auch die Siedlungstätigkeit Israels in den besetzten Gebieten von der Staatengemeinschaft als mit den Bestimmungen des IV. Genfer Abkommens unvereinbar verurteilt. Auch die Europäische Union hat diesen Rechtsstandpunkt immer wieder in Erklärungen bekräftigt.«
Quelle:
Auswärtiges Amt, Völkerrechtsreferat, Referat 500, Bearbeiter: LS Wallau, Datum: 13. Februar 2006, Gesch.Z. 500-500 SE Kobald
Israel jedoch unternimmt eine Rechtfertigung seiner Gezielten Hinrichtungen. ( ** )
Herr Lapid hat in diesen Tagen bei der Erklärung des Hintergrundgeschehens von 1972 zum Film "München" seine Rechtfertigung der Gezielten Hinrichtungen in München - unwidersprochen - vortragen dürfen.
Diese Meinungsäußerung gestattet ihm Art. 5 GG.
Doch derselbe Artikel hätte keinen der 80 Zuhörer an dem Hinweis auf Art. 3, IV. GK hindern müssen. Ein Hinweis auf das geltende Völkerrecht kann auch nicht dem Antisemitismus zugerechnet werden.
Es lag wohl nicht am Mut zur Wortmeldung - vielleicht am fehlenden Wissen. Damit will ich die Anwesenden jedoch nicht verurteilen. Am Beginn meines zunehmenden Interesses am Geschehen im Nahen Osten war mir die Genfer Konvention ebenfalls nicht bekannt.
Herr Lapid hatte diese Rechtfertigung während des Abendprogrammes auch nicht vorher angekündigt.
________________________________________
( * ) alle Zitate sind dem folgenden Artikel entnommen
"Palästinensische Anarchie", Kommentar von Jacques Schuster
jacques.schuster@welt.de
Die Welt, Artikel am Mit, 15. März 2006
( ** )
Quelle: Süddeutsche Zeitung, Nr. 62, 15. März 2006, Seite 43
Die eine Sicht der Dinge - Israels Geheimdienst erklärt den Film "München", von Steffen Heinzelmann
16 Adar 5766 * 16. März 2006 © Heinz Kobald